Fall vor dem EuGH: Der EU-Abgeordnete Patrick Breyer zieht eine rote Linie gegen die Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen der BürgerInnen in der EU
Am 15. und 16. Mai hörten die Richter des Gerichtshofs der Europäischen Union die französische Regierung, mehrere französische Nichtregierungsorganisationen, den Europäischen Datenschutzbeauftragten und die Agentur der Europäischen Union für Cybersicherheit in einer Rechtssache an, deren Ergebnis die Privatsphäre von mehr als 447 Millionen EU-Bürgern bei ihren Aktivitäten im Internet erheblich stärken bzw. schwächen wird. (Siehe Rechtssache C-470/21)
Die französische Nichtregierungsorganisation La Quadrature du Net (LQDN) und drei weitere Beschwerdeführer wenden sich in dem Verfahren gegen die Verwendung der Internet-Identität von BürgerInnen durch Frankreich zur Durchsetzung von Urheberrechten. Die NGO argumentieren, dass die Verwendung von pauschal gespeicherten IP-Adressen zur Verfolgung von Filesharing unverhältnismäßig sei, da es sich nicht um schwere Straftaten handele und außerdem keine unabhängige Kontrolle vor dem Zugriff stattfinde. Die zuständige Behörde Arcom (früher Hadopi) betreibt in Frankreich eine Überwachungsdatei mit großen Mengen an IP-Adressen und zivilen Identitätsdaten von Bürgern, um Internetnutzer zu warnen und schließlich zu bestrafen, die urheberrechtlich geschützte Werke ohne Genehmigung weitergeben.
In seinen nicht bindenden Schlussanträgen schlägt Generalanwalt (AG) Szpunar vom Gerichtshof der Europäischen Union eine “Neuausrichtung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung von Artikel 15 Absatz 1 der Richtlinie 2002/58 in Bezug auf Maßnahmen für das der Quelle einer Verbindung zugeordnete Luxemburg” vor, und zwar in Form einer Rechtsprechung, “die eine generelle und unterschiedslose Vorratsspeicherung von IP-Adressen (…) zum Zwecke der [Bekämpfung] von Online-Straftaten vorsieht, bei denen die IP-Adresse das einzige Ermittlungsmittel ist.”
Dr. Patrick Breyer MdEP (Piratenpartei/Grüne/EFA) warnt vor der pauschalen Speicherung der IP-Adressen aller BürgerInnen und zieht eine rote Linie.
Rote Linie: EU-Bürger haben ein Recht auf vertrauliche Internetkommunikation
Eine allgemeine und wahllose Speicherung von IP-Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugeordnet sind, hat inakzeptable Folgen.
IP-Adressen sind Schlüssel zu Identitäten
Die IP-Adressen der Bürger in Kombination mit den Standard-Logfiles der Inhaltsanbieter müssen mit einem obligatorischen Laufzettel verglichen werden, der die Aktivitäten jeder Bürgerin und jedes Bürgers protokolliert. In der analogen Welt wäre eine solche Aktivitätsspeicherung inakzeptabel: Es würde festgehalten, welche Zeitungsartikel die Bürger morgens lesen, welcher Arzt in der Mittagspause aufgesucht wird und wer sich abends mit wem trifft. Eine solche Aufzeichnung von Aktivitäten wäre in analoger Form in einer Demokratie unvorstellbar. In digitaler Form sind all diese Daten verfügbar, verteilt auf vernetzte Datenbanken und Geräte. Die IP-Adressen der Bürger sind das Bindeglied, das sie zugänglich und nachvollziehbar macht, IP-Adressen sind der Zugang zur Identität.
Das Ende der Anonymität im Internet
Eine generelle und unterschiedslose Speicherung von IP-Adressen würde das Ende der Möglichkeit für die Bürger bedeuten, anonym und vertraulich Informationen im Internet abzurufen, zu teilen, medizinischen Rat einzuholen oder anonym mit Journalisten in Kontakt zu treten. Besonders betroffen wären Menschen, die in einer Notsituation Rat und Hilfe suchen (z.B. Opfer und Täter von Gewalt- oder Sexualdelikten), BürgerInnen, die trotz öffentlichen Drucks ihre Meinung äußern wollen oder BürgerInnen, die Missstände aufdecken und sich anonym an JournalistInnen wenden oder Strafanzeige erstatten wollen.
Speicherung von IP-Adressen beeinträchtigt E-Mail-Korrespondenz
Die IP-Adresse des Absenders ist in den meisten E-Mails enthalten, so dass in Zukunft auch unter einem Pseudonym registrierte E-Mail-Konten zugeordnet werden könnten. Die vertrauliche E-Mail-Kommunikation muss besser geschützt werden, denn sie ist einer der am weitesten verbreiteten Kommunikationskanäle, über den Menschen Informationen austauschen, psychologischen oder anderen medizinischen Rat einholen oder mit der Polizei, den Medien oder Anwälten Kontakt aufnehmen.
Generalverdacht gegen Millionen von BürgerInnen
Die generelle und wahllose Speicherung von IP-Adressen verstößt gegen das Prinzip der Unschuldsvermutung. Bereits die Speicherung der Daten ist ein Eingriff in die Privatsphäre der Internetnutzer. Die Verpflichtung zur Vorratsspeicherung von IP-Adressen ist unverhältnismäßig, weil sie überwiegend gesetzestreue BürgerInnen trifft.
Persönlichkeits- und Bewegungsprofile
Eine generelle und undifferenzierte Vorratsdatenspeicherung der Identität der BürgerInnen im Internet würde die Erstellung von aussagekräftigen Persönlichkeits- und Bewegungsprofilen praktisch aller BürgerInnen in noch größerem Umfang ermöglichen als Telefonverbindungsdaten, weil die Online-Aktivitäten das gesamte Leben der Bürger abdecken. Aus der Summe der Informationen darüber, was die Bürger im Internet lesen und schreiben, kann ein Profil erstellt werden, das z.B. Aufschluss über politische Meinung, Religion, Krankheiten oder Sexualleben geben kann. Darüber hinaus kann über die IP-Adresse auch der ungefähre Standort der NutzerInnen ermittelt werden. Aufgrund der Daten, die von vielen Geräten auch im “Stand-by-Modus” gesammelt und gespeichert werden, können umfangreiche Bewegungsprofile, Verhaltensmuster und Nutzerverhalten erstellt werden.
IPv6-Adressen können eindeutige und dauerhafte Tracking-Identifikatoren sein
Der neue Standard für IP-Adressen IPv6 macht es möglich, fast allen Gegenständen des täglichen Lebens eine individuelle Kennung, eine dauerhaft identische IP-Adresse, zuzuweisen. Uhren, Kühlschränke, Spielzeug, Autos, Arbeitsgeräte, Smart-Home-Geräte, einfache Telefone sowie Smartphones, Kameras und fast jedes andere technische Kleingerät können in Zukunft mit dem Internet verbunden werden. Damit würde das sogenannte “Internet der Dinge” in seiner Gesamtheit von einer allgemeinen und undifferenzierten Vorratsdatenspeicherung erfasst werden. Laut einer aktuellen Studie können bereits 19 % der Haushalte anhand der Endnutzer-ID in ihrer IPv6-Adresse dauerhaft getrackt werden.
Verstärkung von Grundrechtsverletzungen durch Kombination von Daten
IP-Datensätze müssen in Kombination mit anderen Informationen (“Logfiles”) betrachtet werden, die von Anbietern wie Google, Amazon, Meta oder Microsoft gespeichert werden. Eine pauschale Speicherung von IP-Adressen würde die gesamte Internetnutzung nachvollziehbar machen. Das umfasst potenziell alle Eingaben, Klicks, gelesene Internetseiten, Suchbegriffe, Downloads und alle Beiträge im Internet. Ist ein Pseudonym (z.B. Benutzerkonto, Cookie) erst einmal über die IP-Adresse des Nutzers identifiziert, lässt sich mit den Nutzungsdaten des Providers oft jeder Klick und jede Eingabe des Besitzers über Tage, Wochen oder Monate verfolgen.
Diskriminierung von InternetnutzerInnen
Eine generelle und undifferenzierte Speicherung unserer Identität im Internet wäre eine ungerechtfertigte und technikfeindliche Diskriminierung von Internetnutzern gegenüber Menschen, die weiterhin anonym per Telefon (z.B. Flatrate), Post oder direkt kommunizieren und sich informieren können. Die Tatsache, dass die IP-Adresse der einzige Anhaltspunkt zur Aufklärung einer Straftat sein kann, unterscheidet sie nicht von anderen Verbindungsdaten. Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Identifizierbarkeit eines Teilnehmers anhand der IP-Adresse unter schlechteren Voraussetzungen erfolgen soll als die Identifizierbarkeit anhand anderer Verkehrsdaten (z.B. IMEI-Kennung, Zeitpunkt einer Telefonverbindung).
EU-Rechtsprechung wird nicht beachtet
Seit mehr als 15 Jahren weigern sich die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Vorratsdatenspeicherung nachzukommen. Wiederholt haben die Regierungen die vom Gerichtshof auferlegten Schranken und Anforderungen ignoriert. In jüngster Zeit nutzen die Regierungen Belgiens, Dänemarks und Irlands jede Gelegenheit, um ein Höchstmaß an Überwachung durchzusetzen, anstatt in Polizeiarbeit und Sozialarbeit zu investieren, wie Experten erklären. Jede Schwächung der digitalen Grundrechte wird von den Regierungen weiter überstrapaziert. Dies führt zu einer unnötigen und unverhältnismäßigen Überwachung der EU-Bürger und trägt zur Krise der Rechtsstaatlichkeit in der EU bei.
Die IP-Adressen der BürgerInnen sollten besser geschützt werden
Wenn es um die Internetaktivitäten der Bürger geht, muss die Sensibilität von IP-Datensätzen umfassend und langfristig berücksichtigt werden. Entscheidend ist die Verwertbarkeit der gesammelten Daten und die Möglichkeiten der Nutzung der IP-Daten der BürgerInnen. Daher sollten IP-Daten besser geschützt und nur dann auf Vorrat gespeichert werden, wenn es dafür einen konkreten Anlass gibt. Zum Beispiel in Verdachtsfällen darf die Identität des Nutzers einer IP-Adresse nur mit richterlicher Anordnung, nur zur Verfolgung schwerer Straftaten oder zur Abwehr schwerer Gefahren offengelegt werden. Rechtlich muss die Unschuldsvermutung gewahrt bleiben. Politisch werden nur grundrechtsfreundliche Alternativen zur Vorratsdatenspeicherung die Werte der EU respektieren.