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Reif für die Rente? – Das Grundgesetz wird 65 Jahre alt.

Ein Kommentar von Schrödinger

Das Grundgesetz wird also 65 Jahre alt. Die ARD ehrte den Anlass durch einen hervorragend besetzten Film über die Entstehung des – zu seiner Zeit bahnbrechenden – Artikels 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland:

Artikel 3. (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.

Männer und Frauen sind gleichberechtigt.

Ein weiser Artikel, der nicht nur die direkte Lehre aus der damals unmittelbaren Vergangenheit zieht. Ein aufsehenerregender Artikel, weil er – wie im Film so anrührend miterlebbar gemacht wurde – buchstäblich »von der Straße« ins Grundgesetz gekämpft wurde. Das mit der Post war keine künstlerische Freiheit, und auch nicht die abwiegelnde Reaktion von Theodor Heuss. Ich muss gestehen: Mich hat der Film genau so berührt wie das Grundgesetz selbst – wann immer ich es zur Hand nehmen. Heute habe ich das wieder einmal getan und möchte euch zu einer kleinen Reise durch den ersten Abschnitt der Verfassung mitnehmen.

Der Artikel 3, den ich oben in der Urfassung wiedergegeben habe, ist einer der wenigen Artikel, der sich im Laufe der Zeit zum Guten weiterentwickelt hat. Heute lautet er:

Artikel 3. (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender   Nachteile hin. (3) Niemand darf wegen  seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache,  seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder  politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Der andere Artikel, der im Sinne der Verfassung erweitert wurde, ist Artikel 20. Ihm wurde im Jahre 1968 das Widerstandsrecht hinzugefügt.

Das Briefgeheimnis ist unverletzlich.

Anderen Artikeln ging es weniger gut. Artikel 10 etwa wurde in unerwartet grundlegender Art zur Ader gelassen – und zwar nach einem Muster, das uns ganz aktuell in der NSA-Affäre wieder begegnet:

Artikel 10. [1] Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind  unverletzlich. [2] Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen  demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des  Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem  Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und  Hilfsorgane tritt.

Die Wohnung ist unverletzlich.

Das war bereits 1968. Noch schlimmer aber hat es 1998 den Artikel 13 getroffen, bei dem Unverletzlichkeit der Wohnung in gruseliger Weise durch den »Großen Lauschangriff« entstellt wurde.

Artikel 13. (1) Die Wohnung ist unverletzlich. (2) Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei  Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen  Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt  werden. (3) Begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, daß jemand eine durch  Gesetz einzeln bestimmte besonders schwere Straftat begangen hat, so  dürfen zur Verfolgung der Tat auf Grund richterlicher Anordnung  technische Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen, in denen  der Beschuldigte sich vermutlich aufhält, eingesetzt werden,… weiterlesen

Wir wissen heute: Der »Große Lauschangriff« – so unwürdig er auch ist – ist das Mäuschen unter den Lauschangriffen. Er wird ein paar Dutzend Mal im Jahr angewandt. Das sind ein paar Dutzend Mal zu viel. Aber immerhin wenigstens mit einem Richtervorbehalt – wie intensiv diese Praxis auch gelebt werden mag. Daneben aber gibt es einen alltäglichen und allumfassenden Angriff auf unsere Privatsphäre. Ohne Richtervorbehalt. Und ein paar Dutzend Mal jeden Tag auf jeden von uns. Und vermutlich auch von ein paar Dutzend Organisationen gleichzeitig. Organisationen, die sich ihrer parlamentarischen Kontrolle längst genauso entzogen haben, wie Regierungen und Parlamente den Willen verloren zu haben scheinen, ihre Kontrollverpflichtung mit fester Hand auszuüben.

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Die Verankerung des »Großen Lauschangriffes« im Grundgesetz hatte den Rücktritt der damaligen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zur Folge, weil sie die Beschädigung unserer Grundrechte nicht verhindern konnte und nicht mittragen wollte. Und heute? Bei der ersten Sitzung des NSA-Untersuchungsausschusses am gestrigen Donnerstag haben wir gelernt, welche rechtlichen Mittel der Bundesregierung zur Verfügung gestanden hätten, gegen die Übergriffe aus dem Ausland vorzugehen. Dass sie die Übergriffe der eigenen Dienste hätte unterbinden können und müssen, hätte keiner besonderen Erwähnung bedurft. Aber wo bleibt heute der »bold move«? Wo bleiben die Rücktritte der Verantwortlichen, weil sie ihr immer mehr und immer öfter zu Tage tretendes Versagen nicht mehr ertragen können?

Als historischer Treppenwitz erweist sich übrigens das Verhalten der Unionsfraktion: Ähnlich wie aktuell bei umfassender und anlassloser Vorratsdatenspeicherung kamen aus ihren Reihen die Vorreiter für noch weitere Beschneidungen der Grundrechte: Sie wollten den Lauschangriff durch einen Spähangriff ergänzen. Und heute? Heute ist das längst Realität – wie die Ende Februar bekannt gewordene massenhafte Ausspähung von Yahoo!-Chats durch den englischen Geheimdienst bewies. Wundert sich jemand, dass der Protest moderat ausfiel und Großbritannien mit massiven Folgen nicht zu rechnen braucht? Es ist beschämend.

Doch leider ist die Reihe der Tiefschläge gegen die Grundrechte noch nicht zu Ende. Denn beim Weiterblättern stoße ich auf die beschämendste Änderung bisher:

Politisch Verfolgte genießen Aslyrecht.

Artikel 16. (2) Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.

Am 30. Juni 1993 wurde etwas sehr Wichtiges aus dem Grundgesetz gestrichen. Etwas, das die unmittelbare Lehre aus einer 1949 erst gerade vergangenen Epoche war. Einer Epoche, in der viele Menschen aus Deutschland und aus weiten Teilen Europas fliehen mussten – und dankbar waren, wenn sie irgendwo Aufnahme fanden. »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Aber dieser Satz wurde doch sicherlich nicht ersatzlos gestrichen? Nein, denn es wurde ein neuer Artikel ins Grundgesetz eingefügt:

Artikel 16a. (1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus  einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens  über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze  der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. (3) …

Die sogenannte »Drittstaatenregelung« wurde eingeführt. Menschen, die aus EU-Ländern oder »sicheren Drittstaaten« einreisen, sind vom Asylrecht ausgenommen. Ein Blick auf die Landkarte zeigt: Um bei dieser Regelung noch eine Chance zu haben, müsste man durch die Nordsee schwimmen oder per Flugzeug einreisen. Und das war kein Unfall, man hatte nichts übersehen: Das war Absicht, denn nach Abschluss der Verhandlungen im Jahre 1992 zitierte der Spiegel den damaligen Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble unter dem Titel »Asyl: Legal, illegal, rektal« mit den Worten: »Endlich können wir von unserer Mittellage einmal profitieren.«

Und heute? Ich habe in einem früheren Artikel geschrieben: »Soll es denen doch woanders schlecht gehen.« – Das ist die Ansicht vieler Deutscher, wenn es um Menschen geht, die in Not zu uns kommen. Und dieselben politischen Kräfte wie damals können auch 20 Jahre später noch mit Neid- und Angstdebatten punkten. Tatsachen interessieren dabei eher weniger, auch wenn sogar der öffentlich-rechtliche Rundfunk sich nach Kräften bemüht, den populistischen Parolen einige Fakten entgegen zu halten.

Dass  die Bundeswehr aus einer Wehrpflichtigen-Armee langsam wieder in eine  Freiwilligen-Armee mit Korpsgeist überführt wird, passt nur ins Bild.  Ich will es nicht wissen.

Keine Zeit für Ruhestand.

Mit diesen Gedanken klappe ich meine Totholz-Ausgabe des Grundgesetzes traurig zu.

Was für ein gewaltiges Werk diese Verfassung einmal war, und wie traurig sie nach und nach beschnitten wird. Selbst wenn Gesetze, die die Grundrechte aushöhlen wollen, immer wieder vom Bundesverfassungsgericht kassiert werden: Einige dieser Angriffe sind leider doch erfolgreich. Trotzdem – oder gerade deswegen – darf das Grundgesetz nicht in Rente gehen.

Wir brauchen es heute mehr, als jemals zu vor: Das Grundgesetz.

Und wir brauchen seinen starken Hüter – das Bundesverfassungsgericht – das es gegen alle Versuche weiterer Aushöhlung verteidigt.

Und die Piraten?

Es reicht nicht, die Verteidigung der Grundrechte einem Gericht zu überlassen. Wir brauchen eine starke politische Kraft in Deutschland, in Europa und in der Welt, die sich gegen den Trend stemmt und als Anwalt der Grundrechte wirkt. Eine Kraft, die die Schäden repariert, die 1968, 1993 und 1998 angerichtet wurden. Eine Kraft, die unsere Verfassung weiterentwickelt und dem digitalen Zeitalter anpasst.

Der Artikel 5 des Grundgesetzes zur Meinungs- und Pressefreiheit muss auf digitale Netze erweitert werden und die Privatsphäre muss ins Grundgesetz zurückkehren: Der »Große Lauschangriff« muss aus Artikel 13 wieder entfernt werden. Ebenso die Ergänzung in Artikel 10, so dass Betroffene die Rechtmäßigkeit gegen sie durchgeführter staatlicher Ausspähung überprüfen können.

Die Positionen der PIRATEN zu Überwachung und Privatsphäre.

Die »Drittstaatenregelung« muss aufgehoben werden: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Punkt. In diesem Zuge muss auch FRONTEX abgeschafft werden – und damit auch die Drohneneinsätze gegen Flüchtlinge im Mittelmeer. Schutzssuchenden muss mit dem selben Respekt begegnet werden, den wir uns wünschen würden, wenn wir einmal in Not sind.

Die Positionen der PIRATEN zu einem Europäischen Asylrecht.

Das war nur der dringendste Reparaturbedarf am Grundgesetz. Weiterhin ist Nacharbeit an zahlreichen Gesetzen notwendig, die schleichend zur Aushöhlung der Grundrechte beigetragen haben. Dazu zählen etwa das Verschachern unserer Meldedaten, die Bestandsdatenauskunft und die – gegen den Beschluss des Europäischen Gerichtshofs – mit einer Großen Koalition wohl unaufhaltsamen Vorratsdatenspeicherung. Und auch auf der operativen Ebene fehlt angesichts der unsäglichen Untätigkeit der Bundesregierung bei der verfassungswidrigen Ausforschung der Bürger durch in- und ausländische Geheimdienste eine starke und entschlossene Kraft, die die Grundrechte wahrt und gegen Angriffe verteidigt.

Eine große Aufgabe.

Aber drunter geht es nicht.

Leider.

Und wahrscheinlich müssen wir vieles davon erst einmal von der Straße aus erledigen – wie damals beim Artikel 3: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.«


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